Ohne Zuordnung

ABSCHIEDS:BLICK

Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts.
Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Wer hat uns also umgedreht, dass wir
was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem welcher fortgeht?
Wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt,
sich wendet, anhält, weilt –,
so leben wir und nehmen immer Abschied.
Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, Die Sonette an Orpheus, Reclam Verlag Ditzingen 1997, S. 37

Ein Ausschnitt aus den „Duineser Elegien“ von Rainer Maria Rilke.
Es geht in den Elegien um die Vergänglichkeit des Lebens in ihren Spielarten und Wirkungen. Vor allem die Unausweichlichkeit des Todes beschäftigt Rilke.
Er behauptet im o.g. Zitat – mit meinen Worten ausgedrückt:
Wir können in unsere Endlichkeit nicht aktiv eingreifen, sondern sind lediglich Beobachter.
Denn da ist nichts zu machen. Unser Vergänglichkeit kann nur betrachtet werden.
Dass wir sterblich sind, ist nicht zu ändern, aber offensichtlich zu sehen – und das nicht erst im Alter.

Diese „Ohnmacht“ überfordert uns gelegentlich, sagt Rilke („uns überfüllts“).
Denn es gibt letztendlich keine Flucht vor dem Tod – sondern immer nur einen durchgängigen Abschied vom Leben.
Wir können zwar unsere Gedanken zu sortieren versuchen („wir ordnens“) – auch mehrmals –, werden aber keine Lösung finden („es zerfällt … wir zerfallen selbst“).
Und so bleiben wir Zuschauer – egal wo auf dieser Erde, egal wann in unserem Leben.
Halten wir bei diesem Gedanken mal kurz an. Denn das hört sich doch alles sehr negativ und depressiv an.
Ist es aber nicht. Denn:
Bewusstes Zuschauen ist immer auch der Anfang aller Weisheit.
Wer gut beobachtet, lernt dazu.
Intensives Zuschauen ist immer auch der Beginn jedes Genussmoments.
Wer aufmerksam hinschaut, entdeckt Schönheit
Fragendes Zuschauen ist immer auch der Startpunkt jeder Hilfe.
Wer offene Augen hat, sieht Bedürftigkeit.
Wichtig ist nur, dass wir niemals beim Zuschauen stehen bleiben, sondern auswerten und „weiterführen“, was wir beobachten.

Noch kurz weiter in den Beobachtungen Rilkes:
Wir leben abschiedsfixiert („nehmen immer Abschied“) – und glorifizieren die Vergangenheit.
So, als ob nur das Zurückliegende wichtig wäre –
wir der Gegenwart nichts zu geben hätten,
wir schon heute nicht mehr anwesend wären.
So, als ob die Rückschau wichtiger wäre, als das vor uns Liegende,
das Loslassen wichtiger, als das Empfangen des Geschenkten,
das Abschiednehmen wichtiger, als das Begrüßen der Gegenwart.

„Wer hat uns so umgedreht?“ … das ist Rilkes nachdenkenswerte Frage.
Der Gott des Lebens war’s sicher nicht, oder?

Das könnte dich auch interessieren