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Mein ganzes Leben lang habe ich darum gebetet, „das Problematische des Bösen“ zu verstehen. Aber vielleicht sollte man beten: „Hilf mir zu leben – richtig zu leben – ohne zu verstehen.“
Anne Morrow Lindbergh, Welt ohne Frieden – Tagebücher 1939-1944, Piper Verlag Zürich 1986, S. 321
Ich tausche mich seit Jahren immer wieder mit einem Freund über die Frage aus, warum auch in frommer Umgebung das Böse so gnadenlos die Oberhand gewinnt.
Warum wird Menschen so oft die Chance zur Veränderung verweigert?
Warum wird so schnell verurteilt, warum so selten vergeben?
Warum wird Versöhnung verweigert, warum so selten nachgegeben?
Warum darf das heimlich Böse regieren und das offensichtlich Gute wird vernachlässigt?
Warum durchschauen die Frommen so wenig, wie unchristlich das Böse ist?
Und warum bin ich selbst so oft schon aktiv Teil des Problems geworden?
Das hatte sich Jesus doch sicher ganz anders gedacht …
Dann hab ich diesen Satz bei Anne Morrow Lindbergh gelesen und entdeckt:
Mein Freund und ich sind nicht die Einzigen, die sich das fragen und deshalb zu Gott beten.
Und die Antwort?
Keine Ahnung!
Ich erahne, dass es irgendwie mit der menschlichen Unvollkommenheit zusammenhängt – und mit der Schwäche des menschlichen Willens. Aber ich fühle, dass mich diese Antwort nicht wirklich befriedigt.
Denn ich kenne Menschen, die es schaffen, ganz anders zu handeln und gegen das Böse anzugehen. Ich will deshalb die Fragen nicht einfach bloß mit der Tatsache beantworten, dass „wir ja alle Fehler haben und Sünder sind“.
Und: ich weigere mich, Menschen nur auf das zu reduzieren, was sie Böses tun oder zulassen.
Die Empfehlung von Anne Morrow Lindbergh zeigt mir noch einen alternativen Weg,
weist noch eine andere Richtung,
eröffnet noch eine weitere Möglichkeit.
Nämlich beten.
Nicht einfach nur um Antworten auf die Fragen, Verständnis in den Zweifeln, Weisheit für die Zusammenhänge.
Nein! Sie empfiehlt, mit den Worten zu beten: „Hilf mir zu leben – richtig zu leben – ohne zu verstehen.“
In „ihrem“ Gebet geht es nicht um die Anderen, die Bösen.
Sie betet für sich selbst und ihr eigenes Handeln.
Sie bittet darum, das Falsche zu identifizieren und das Richtige zu leben.
Vielleicht würde sich die ausführliche Version ihres Gebets ja so anhören:
Geliebter Gott,
Schöpfer des Guten.
Lass deine Güte mich durchdringen,
dass andere dadurch schön werden.
Lass dein Gutes mich durchfließen,
dass andere davon erreicht werden.
Geliebter Gott,
Liebhaber des Richtigen.
Lass dein Recht mein Ziel bleiben,
dass das Unrecht durch mich abnimmt.
Lass deine Gerechtigkeit mein Antrieb sein,
dass die Ungerechtigkeit verliert.
Alles Richtige nur mit dir.
Alles Gute nur von dir.
Lasst uns heute so beten …


