Vernimm nun, auf welche Weise die Schlange Klugheit zeigt.
Wenn sie merkt, dass sie alt und runzlig wird und zu stinken beginnt, so sucht sie eine Stelle, an der zwei Steine beieinander liegen, und zwischen diesen schiebt sie sich ganz genau hindurch, so dass sie die alte Haut ganz abstreift; darunter ist eine neue gewachsen.
Ganz ebenso soll der Mensch mit seiner alten Haut verfahren, das heißt mit alldem, was er von Natur besitzt, wie groß oder gut es auch immer sei.
Welches sind (nun) diese beiden Steine? Der eine ist die ewige Gottheit, welche die Wahrheit ist, der andere die liebreiche Menschheit Christi, der wesenhafte Weg. Zwischen diesen beiden Steinen hindurch soll der Mensch all sein Leben und Wesen gestalten, schleifen und tragen.
Johannes Tauler (1300 – 1361) in Predigt 23: Estote prudentes et vigilate in orationibus
Ich gebe zu: das ist eine etwas ungewöhnliche Adventsempfehlung …
Johannes Tauler, der wohl berühmteste Schüler Meister Eckharts, liebte Bilder aus der Natur und der Tierwelt … ich hab schon von mehreren gelesen. Hier beschreibt er die Verhaltensweise von Schlangen beim Häuten.
Die alte Haut wird zwischen zwei Steinen abgestreift. Darunter sei bereits eine neue Haut vorhanden, so Tauler.
Und nun kommt ein direkter Vergleich, eine konkrete Anweisung, eine praktikable Übertragung ins Leben:
Auch Menschen haben eine „alte Haut“ – und das ist erstmal nichts Schlechtes. Johannes Tauler spricht davon, dass sie „groß und gut“ sein kann.
Das sind zum Beispiel seine Gaben, seine Gewohnheiten, seine Geschichte – Dinge, die er „von Natur besitzt“.
Im Verborgenen wächst also ein Leben lang eine „neue Haut“:
neue Eignungen,
neue Erlebnisse,
neue Erkenntnisse,
neue Energien,
neue Einflüsse,
neue Erfahrungen.
Sie alle sollen an die Oberfläche kommen … sichtbar „neue Haut“ werden.
Deshalb braucht die „alte Haut“ zwei stabile Punkte, an denen sich „abarbeiten“ kann.
Johannes Tauler nennt diese zwei Punkte:
„Der eine ist die ewige Gottheit,
welche die Wahrheit ist,
der andere die liebreiche Menschheit Christi,
der wesenhafte Weg.“
Ewige Gottheit und liebevolle Menschheit – daran werden wir „alte Haut“ los.
„Zwischen diesen beiden Steinen hindurch soll der Mensch all sein Leben und Wesen gestalten, schleifen und tragen.“
Beides ist nötig, um das Neue zum Vorschein zu bringen.
Das Zusammenspiel
von Gottheit und Menschheit,
von Wahrheit und Liebe,
von Größe und Gnade
ist der Ursprung aller Veränderung.
Trennen wir das eine vom anderen, schleifen wir uns einseitig ab.
Im Bewusstsein und im Bedenken
der Souveränität und der Liebe Gottes,
der Herrlichkeit und der Niedrigkeit Gottes,
der Macht und der Schwachheit Gottes
wird unser Leben gestaltet und umgestaltet – von alt nach neu.
Apropos „Gottheit und Menschheit“:
Mir fällt dazu das im Jahr 1736 veröffentlichte Weihnachtslied ein, in dem Johann Ludwig Konrad Allendorf beschreibt, wie in der Person Jesu Gottheit und Menschheit zusammenkommt:
Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude;
A und O, Anfang und Ende steht da.
Gottheit und Menschheit vereinen sich beide;
Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah!
Himmel und Erde, erzählet’s den Heiden:
Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden.
Das heißt: Bei Jesus kommen beide „Steine“ zusammen.
An Weihnachten feiern wir, dass der ewige Gott Mensch wird – das Neue wird sichtbar, nahbar, greifbar.


