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BLICK:WECHSEL

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Du musst den Blick ins Weite kehren,
von deinem engen eignen Wesen.
Die Weite muß die Enge lehren.
Du musst am Leid der Welt genesen.
Zum Leid des Gottes musst du kommen
und musst in Seinem Antlitz lesen –
und aller Gram wird dir genommen.

Christian Morgenstern (1871 – 1914), in: Morgenstern, Epigramme und Sprüche, 1922

Was war nochmal 1492?
Ach ja, die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus.
Das war sprichwörtlich eine Horizont-Erweiterung für die europäischen Herrscher.
Neues Land,
neue Weite,
neue Freiheit,
neuer Stolz.
Doch wechseln wir den Blick auf die Ureinwohner Amerikas, sieht alles ganz anders aus.
Verlorener Lebensraum,
verlorene Eigenständigkeit,
verlorene Kultur,
verlorene Würde.
Eine Jahreszahl, zwei Wahrheiten.
Der Blickwinkel macht’s.
So ist das immer. So erleben wir das Woche für Woche.
Die Einen sehen Erfolge positiv, die Anderen die gleichen Erfolge bedenklich.
Manche sehen den Nutzen, andere das Aus:Nützen.
Egal, welche Errungenschaften wir heute feiern, welche Eroberungen wir beklatschen … es wird immer auch eine andere, weitere Sicht geben – die Sicht der darunter Leidenden, der deshalb Verlierenden, der damit Übergangenen, der davon Betroffenen.

Überall wo es bei uns um die Erweiterungen des eigenen Macht-Raums und der Deutungs-Hoheit geht, wird der Blickwinkel oft viel zu „eng“. So verlieren wir die „Weite“ – und damit das Leid des Mit-Menschen und das Leiden Gottes aus dem Blick.
Dann lenkt das tiefliegende, eigene, verengte Motiv den Blick und der Selbst-Zweck die Sicht. Vermutlich deshalb legt Jesus in der Bergpredigt und im Gespräch mit den Frommen seiner Zeit so viel mehr Wert auf das Motiv, als auf die Tat an sich.

Noch etwas:
„Blickwinkel“ ist meiner Meinung nach ein irreführender Begriff.
Denn nicht der Blick führt zum Denk-Wechsel (ist allenfalls der Anfang),
sondern das Denken steuert den Blick-Wechsel.
Blickwechsel ist also eine Sache des Hirns und nicht der Sicht.

Wir alle brauchen einen Blickwechsel in die Weite …
vom Ich zum Du,
vom Hier zum Dort,
vom Einseitigen zum Wechselseitigen,
vom Sehen zum Denken.
Das wird unser Leben ändern … und das Leben anderer auch.

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